WISSEN & IMPULSE
Mundmotorik, Artikulation und MFT – wo liegt der Zusammenhang?
In meinem letzten Blogbeitrag habe ich die Frage behandelt: Ist MFT Mundmotorik?
Die Antwort war eindeutig: Nein.
Heute möchte ich das Thema weiterführen und einen wichtigen Aspekt beleuchten:
Welche Rolle spielt Mundmotorik in Bezug auf Artikulation (phonetische Artikulationsstörungen) – und wie grenzt sich die MFT davon ab?
Mundmotorik ≠ Artikulation ≠ MFT
In einem Artikel von Mathilde Furtenbach („Was sind mundmotorische Übungen (MMÜ) und wem dienen sie?“, Logopädie Schweiz, Juni 2020) heißt es sehr treffend:
„Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass MFT etwas völlig anderes ist als der Einsatz von MMÜ. Wenn Eltern in einer Beratung angeleitet werden, schon im Vorfeld der Therapie die Mundmotorik anzuregen, hat das nichts mit Artikulationstherapie oder MFT zu tun.“
Damit ist klar: Wir müssen differenzieren.
Was will ich erreichen? Was ist mein Ziel? Und welche Therapieform bringt mich dorthin?
- Mundmotorik: kann spielerisch Wahrnehmung und Beweglichkeit anregen, ist aber unspezifisch.
- Artikulationstherapie: setzt gezielt an der Lautbildung an.
- MFT: behandelt die primären oralen Funktionen (Atmung, Schlucken, Zungenlage, Lippenschluss) – die Basis für alles Weitere.

Die Hierarchie der oralen Funktionen
Wenn wir ein Kind mit der Diagnose Sigmatismus sehen, dürfen wir nicht vorschnell mit Lautübungen beginnen.
Der erste Blick muss auf die primären oralen Funktionen gehen:
- Liegt eine offene Mundhaltung vor?
- Ist die Zunge tief im Mundboden positioniert?
- Gibt es orale Habits wie Lippenlecken oder Daumenlutschen?
- Wie werden die Laute der zweiten Artikulationszone (N, T, D, L) gebildet?
Nur wenn die Basis stimmt, können wir in die Arbeit mit den sekundären Funktionen – also der Artikulation – einsteigen.
Beobachtung und Diagnostik
Um einzuschätzen, ob eine reine Artikulationsstörung oder eine orofaziale myofunktionelle Störung (OMS) vorliegt, braucht es gezielte Beobachtung:
- Ist die Zungenruhelage physiologisch?
- Kann die Zunge mühelos an den Gaumen gehoben werden?
- Ist die Nasenatmung etabliert?
- Funktioniert der Lippenschluss?
- Wie schluckt das Kind?
- Wie kaut es?
- Gelingt es, Bewegungen von Zunge und Unterkiefer zu trennen?
- Kann das Kind die Zunge am Gaumen ansaugen und halten?
Diese Fragen zeigen: Eine genaue Diagnostik ist entscheidend, um den richtigen Therapieansatz zu wählen.
Primäre und sekundäre Funktionen
Die primären oralen Funktionen (Atmung, Kauen, Schlucken, Zungenruhelage, Lippenschluss) sind die Grundlage für die sekundären Funktionen (Artikulation).
Ohne physiologische Basis können sich Artikulationsstörungen wie Sigmatismus überhaupt erst entwickeln oder hartnäckig bestehen bleiben.
Interessanterweise verbessern sich die Laute N, T, D, L im Rahmen einer MFT häufig von selbst – sobald Zungenlage und Lippenschluss korrigiert sind.
Das S hingegen muss in vielen Fällen gezielt behandelt werden.
MFT als Basis – Artikulation als Aufbau
Die Entscheidung, ob eine direkte Sigmatismus-Therapie sinnvoll ist oder ob zunächst eine MFT notwendig ist, liegt in der fachlichen Einschätzung von Logopäd:innen.
Wenn die primären oralen Funktionen unphysiologisch sind, ist eine Sigmatismus-Therapie ohne begleitende MFT oft zum Scheitern verurteilt.
Fazit
MFT ist keine Sammlung mundmotorischer Übungen.
Sie ist ein klar strukturierter, funktionsorientierter Therapieansatz, der auf die primären oralen Funktionen abzielt.
Für die Behandlung phonetischer Artikulationsstörungen – etwa Sigmatismus – bedeutet das:
- MFT ist die Basis.
- Artikulationstherapie baut darauf auf.
- Mundmotorik kann unterstützend wirken, ersetzt aber niemals funktionelle Therapieziele.
👉 Wer die Hierarchie der oralen Funktionen versteht, kann nachhaltig wirksam therapieren – mit Erfolg für Patient:innen und Klarheit für Therapeut:innen.
📌 Ausblick:
Im nächsten Blog widmen wir uns der Frage. Was ist MFT und warum ist ein Paradigmenwechsel notwendig?
Wir freuen uns auf Deine Teilnahme!
Das MFT Zentrum (Alexandra Schick & Carolin Adam)